Bitte beachtet, dass es sich bei unseren Beiträgen nicht um offizielle NA-Literatur handelt, sondern die Artikel nur die persönliche Meinung und Erfahrungen der NA-Mitglieder widerspiegeln, welche die Artikel schreiben.
Onlinemeetings – Chaos statt Struktur?
Ich komme als sog. “Oldtimer“ schon einige Zeit in die Meetings. In all den Jahren habe ich sehr viel Service gemacht. Am wichtigsten war für mich von Anfang an die Struktur. Da ich selbst als Neuankömmling ein Päckchen Wahnsinn und Unklarheit in Person war, half es mir sehr bei NA klare Abläufe und Regelungen zu finden. Am besten fand ich, dass es dieses kleine süße Büchlein gab, das immer zu Rate gezogen wurde, wenn Fragen im Service entstanden. Dort standen wichtige Informationen geschrieben, wie zum Beispiel mit welcher Clean-Zeit man welches Amt hat machen können. Am Anfang fand ich es etwas skurril, dass in einem Buch solch eine Vorgabe zu finden war. Mit zunehmender Cleanzeit fing ich an zu verstehen, dass die Vorgaben durchaus Sinn ergaben.
Als Corona dann kam, fand ich die Online-Meetings. Erst mal eine große Bereicherung. Ich musste nicht mehr vor die Tür gehen. Ich konnte theoretisch meine Kamera ausmachen und mit fettigen Haaren und hässlichem Schlafanzug in meinem Wohnzimmer sitzen, während ich gleichzeitig in die Wohnzimmer anderer Menschen gucken konnte. Ich konnte dies tun ohne Schamgefühl. Das gefiel mir. Diese Form der Anonymität war mir bis dahin noch nicht bekannt. Ich muss gestehen, dass ich die Online-Meetings an sich sehr attraktiv fand. Die Tatsache, dass ich mit allen möglichen Menschen, die irgendwo auf der Welt gerade mit eingeschaltet sind, im Meeting gemeinsam genesen konnte, gab mir das Gefühl von Verbundenheit. Und das in einer Zeit in der viele Menschen großes Leid in ihrer Isolation fanden.
Besonders attraktiv fand ich die Möglichkeit Menschen, die ich vielleicht nicht mochte oder nicht gerne hörte, problemlos stumm stellen zu können. Um dann 5 Minuten später den Lautsprecher wieder anzuschalten um dann freundlich sagen zu können: „Danke für dein Teilen.“ Ich habe die online Meetings sehr lange als Bereicherung gesehen; vor allem für Menschen, die nicht an Live-Meetings teilnehmen können, aus welchen Gründen auch immer. Leider hat sich dies dann aber im Laufe der Zeit ins Negative verändert. Ich schreibe diesen Artikel heute, um einmal darzulegen, wie ich diesen Wandel wahrgenommen habe.
Ich stellte fest, dass Empfehlungen und Grundstrukturen, die in den Live-Meetings für mich völlig klar waren, in Online-Meetings von jetzt auf gleich neue Formen und Strukturen annahmen. Leider war auch ich damals nicht stark genug, um mich davon abzugrenzen und schwang anfänglich mit. Es dauerte nicht lange bis ich merkte das diese vermeintlichen Neuerungen für mich Gift sind.
Stichwort Arbeitsmeeting! So ein Arbeitsmeeting kann schon sehr spektakulär sein. Vor allem, wenn jegliche Strukturen über Bord geworfen werden. Ich erlebte, dass Leute in Ämter gewählt werden sollten, die gar nicht anwesend waren, oder dass andere ihre Ämter per WhatsApp abgaben, weil ja keine Zeit mehr fürs
Arbeitsmeeting war. Besonders erschreckend fand ich, dass Neuankömmlinge mit wenigen Wochen in NA Oldtimer beim Teilen stumm schalteten, weil sie meinten, das Teilen wäre unangemessen oder hätte ihrer Meinung nach nichts mit Genesung zu tun. Doch mein persönlicher Favorit ist definitiv, wenn Meetings gestartet werden sollen, ohne dass es Menschen gibt, die dort Service machen; oder noch „besser“, wenn die Chairperson einfach nicht auftaucht ohne Entschuldigung oder Erklärung. Dann wird einfach 25 mal gefragt: “Wer kann chairen?“. Das ganze läuft so lange, bis einer der Co-Abhängigen-Fraktion endlich einknickt, und dann das Meeting chairt. Muss besonders anziehend für einen Neuankömmling sein.
Ich schreibe diesen Artikel nicht, um zu zeigen, dass Online-Meetings schlecht sind oder dass sie keine Genesung bringen können, denn das stimmt nicht. Meine Erfahrung ist, dass ein gutes Online-Meeting mit gut aufgestelltem Service und klaren Zuständigkeiten eine Energiebombe für jeden Suchtkranken sein kann; und ein unglaubliches Energielevel erreichen kann. Ich glaube auch daran, dass ein Neuankömmling durch Online-Meetings dauerhaft Clean bleiben kann.
Allerdings glaube ich nicht daran, dass diese Genesung so passieren könnte, wenn die traditionellen NA-Strukturen nicht eingehalten werden. Wenn ich ehrlich bin, stimmt es mich auch traurig zu sehen, dass einfache Strukturen wie zum Beispiel korrekte Wahlen, gut aufstellte Service-Teams oder reguläre Meetingsabläufe einfach über den Haufen geworfen werden und NA neugestaltet wird. Ich habe prinzipiell nichts gegen Veränderung. Jedoch bin ich der Meinung, dass die Strukturen, die wir in Live-Meetings haben, ebenso in den Online-Meetings weitestgehend erhalten bleiben sollten.
Wenn ich in Arbeitsmeetings höre, dass ein Meeting aus einer einzigen Person besteht, oder dass ein Meeting ohne festen Service eröffnet werden soll, und Äußerungen fallen wie: “Wir können ja dann immer gucken, wer gerade da ist und wer Zeit und Lust hat zu Hosten oder zu Chairen“, dann denke ich oft: “Alter, wenn das so weiter geht, dann sind wir bald alle voll im A****!“
Ich stelle mir vor, ich wäre in mein erstes Meeting gegangen und keiner hätte ein festes Amt gehabt, und jeder hätte gerade das gemacht, was und wann er wollte, weil ihm nun jetzt gerade danach war. Dann wäre ich nicht sitzen geblieben. Mir hat es gut getan, dass man mich damals an die Hand nahm, und mir zeigte, dass NA klare Strukturen hat, an denen wir uns alle festhalten dürfen. Irgendwie war das die Klarheit, die mir gefehlt hat, um zu wissen, wie mein Leben aussehen könnte.
In meiner aktiven Nehmer-Zeit bestand mein Leben aus sehr viel Chaos, Unklarheit und interessanten Verstrickungen, die ich nach einer bestimmten Zeit selbst nicht mehr verstand. Irgendwie fühlte ich mich in diesem selbst erzeugten Chaos immer sehr wohl. Ich konnte dieses Chaos nämlich wunderbar mit Drogen deckeln. Als ich dann clean wurde, stellte ich fest, dass Unklarheit bei mir viele Ängste erzeugt, und ich dadurch nicht mehr wusste, wo es langgeht. Das kreiert Wahnsinn in meinem Kopf.
Nun kann der ein oder andere denken: „Mensch ist die aber krass drauf“. Fakt ist, dass ich diese Klarheit benötige, um clean zu bleiben und klare Sachen zu machen. Denn meine Erfahrung ist, wenn ich anfange unklare Sachen zu machen, bekomme ich unklare Ergebnisse. Das kann ich mir nicht erlauben. Bei NA geht es für mich eindeutig und wortwörtlich um mein Leben. Ich kann mir Unklarheit und dieses Wischiwaschi nicht erlauben. Ich brauche klare Strukturen, damit ich weiß, wo es langgeht, und wer für was zuständig ist. Was nicht bedeutet, dass Ämter nicht abgegeben werden, oder insgesamt Dinge sich verändern dürfen. Es ist nur einfach unglaublich anstrengend für mich als Suchtkranke, unklare Sachen zu machen. Das ist der Grund, warum ich diesen Artikel heute schreiben musste. Ich wünsche mir, dass sich jeder fragt, was für ihn oder sie NA bedeutet, und das vielleicht, der eine oder andere beim Lesen dieses Artikels nicken musste, und vielleicht beim nächsten Arbeitsmeeting eher darauf pocht, dass es so abläuft, wie es auch in einem Live-Meeting ablaufen würde. Einfach nur damit wir das korrekt weitergeben können, was uns gegeben wurde.
G24h