Als ich nach 3 Jahren Rückfall wieder zurück zu NA kam, hatte ich beschlossen,
dieses Mal ein paar Dinge anders zu machen, als in meiner Cleanzeit davor. So habe ich meinen jetzigen Sponsor direkt nach dem ersten Meeting an meinem ersten Cleantag gefragt, ob er sich vorstellen kann, mich durch die Schritte zu begleiten. Ich hatte es eilig, denn ich hatte Angst.
Angst zu sterben.
Ich war verzweifelt, spirituell ausgeblutet und ohne jede Hoffnung. Den mehrjährigen Rückfall hatte ich knapp überlebt und ich wusste, dass NA die einzige Möglichkeit für mich ist, wieder clean zu werden und zu bleiben. Es hat sich angefühlt, als sei dies meine letzte Chance, also habe ich diese, trotz viel Scham, wahrgenommen. Zu dieser Zeit lebte ich in einem kleinen und spärlich möblierten Apartment am Rande Berlins. Befristet, dunkel, keine Anmeldung, keine Klingel, dafür viel Lärm und unbequeme Nachbarn – wie man halt nach 3 Jahren Konsum und allerlei Kollateralschäden so wohnt, samt den Plastiktüten mit den letzten Habseligkeiten.
Ich hatte beschlossen, mich dieses Mal an alle Empfehlungen zu halten, dazu zählten für mich auch 90 Meetings in den ersten 90 Tagen. So habe ich schnell und mit einem Blick in die aktuelle Meetingsliste herausgefunden, dass NA nun einen sogenannten Basisraum hat. Zunächst konnte ich mir darunter überhaupt nichts vorstellen und zugegeben: Diese Neuigkeit hat auch dafür gesorgt, dass ich mich mehr getrennt als zugehörig gefühlt habe. Mein ehemaliges Stammmeeting war inzwischen in diesen Raum umgezogen und überhaupt: „Wie kann die Gemeinschaft nur auf die Idee kommen, etwas zu ändern, während ich 3 Jahre weg war“. Sämtliche Kontakte hatte ich in dieser Zeit gelöscht und entfernt, sonst hätte ich ja nicht in Ruhe nehmen können.
In meinen ersten 2-3 cleanen Wochen hatte ich verschiedene Meinungen zu diesem Raum gehört, von hitzigen Diskussionen auf der Gebietsservicekonferenz und natürlich vielen Meetings. Langsam wurde es Zeit, mir selbst ein Bild das Basisraums zu machen. Als guter Süchtiger hatte ich natürlich Erwartungen an diesen Raum, noch ehe ich ihn das erste Mal betreten hatte: Ein prachtvolles Gebäude, ein lichtdurchfluteter Raum mit feinem Teppich und edlen Holzregalen, in denen sämtliche Literatur steht.
So etwa um meinen 30. Cleantag habe ich diesen Raum das erste Mal besucht. Ich war sehr aufgeregt, wusste ich doch, dass ich den einen oder anderen Freund hier das erste Mal nach meinem Rückfall wiedersehen würde. Ich habe mich zutiefst geschämt. Viele von denen, mit denen ich damals bei NA angefangen habe, waren inzwischen 8-10 Jahre clean. Ich habe mich minderwertig gefühlt.
Der erste Eindruck war von Widerstand geprägt – ein altes Bürogebäude mit klassischem DDR-Charme, der Raum spartanisch und gefühlt eher kalt. Auch das darauffolgende Meeting war nicht unbedingt von viel Verbindung meinerseits geprägt, die ersten Gespräche mit alten Wegbegleitern kamen mir distanziert vor. Ich konnte keines der “schön, dass Du wieder da bist” glauben oder annehmen und war weit davon entfernt, mich wohl oder gar heimisch zu fühlen.
Zu dieser Zeit war ich in Berlin intensiv auf Wohnungssuche, was sich als sehr schwierig gestaltet hat. Ich schrieb zu dieser Zeit den ersten Schritt, war im Job krankgeschrieben und nicht gerade von Hoffnung durchdrungen, ich fühlte mich leer und schutzlos. Mein momentanes Apartment war ein Dach über dem Kopf, mehr nicht, ich konnte dafür nicht dankbar sein. Es hat sich nicht wie ein Zuhause angefühlt, ich hatte keinen sicheren Hafen, keine Basis und trieb ziel- und hoffnungslos durch die Berliner Meetings.
„Die Wege von Higher Power sind unergründlich“, „Wunder geschehen dann, wann man es am wenigsten erwartet“, „Vertrauen und Geduld haben“ – all das habe ich formal verstanden, indes aber nicht gefühlt. Wenige Tage später traf ich einen alten Bekannten zufällig auf der Straße. Als er auf mich zukam dachte ich noch “Boah, auf Smalltalk mit diesem Vogel habe ich gar keinen Bock”. Ich erzählte ihm von meiner verzweifelten Wohnungssuche während der beginnenden Cleanzeit und es geschah etwas unglaubliches: Durch einen Kontakt seinerseits konnte ich wenige Wochen später den Mietvertrag für eine wunderschöne Wohnung unterschreiben. Die Tatsache, dass diese Wohnung nur wenige Fußminuten vom Basisraum entfernt liegt war nur eine Randnotiz für mich. Ich war zu diesem Zeitpunkt zwar noch auf einigen Meetings dort, habe mich aber weiterhin fremd und nicht zugehörig gefühlt. Zu viel Scham, zu viel Widerstand, zu viele neue Gesichter, zu viel Angst.
Gleichzeitig war der Umzug nach Friedrichshain ein Revival für mich. Als ich 2016 das erste Mal clean wurde und nach Berlin kam, habe ich auch dort gewohnt. Nun war ich wieder clean, Freunde aus der Gemeinschaft leben in der Nähe. Wie so vieles im Leben war der Prozess des Einlebens ein ebensolcher, kein Ereignis. Gern erinnere ich mich an die ersten Kaffees in der leeren Wohnung mit einem Freund aus der Gemeinschaft, dessen Sohn in die benachbarte Kita geht. Während des Rückfalles hatte ich alles verloren, ich habe nicht einmal mehr Stühle besessen. Und doch kam ganz langsam so etwas wie Hoffnung in mein Leben, während ich so 6-9 Monate clean war. Ich schrieb nun den zweiten Schritt und ging weiterhin täglich auf Meetings, an 3-4 Tagen der Woche rüber in den Basisraum. Ich begann langsam, mich dort wohlzufühlen, alte Freundschaften keimten wieder auf und neue kamen hinzu, ich übernahm den ersten Serviceposten auf einem Meeting und durfte mich langsam wieder als Teil der Gemeinschaft fühlen. Es stellte sich Vertrautheit ein, der Basisraum wurde zu einer festen Instanz in meinem Leben, zu einer Art zweiten Heimat. Ich lernte dort Newcomer kennen, mit denen ich die Erfahrungen meiner ersten Monate teilte, ich durfte dort zum Thema “Rückfall und Genesung” meine Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, was mich sehr berührt hat. Die Gefühle kamen wieder, gute wie schlechte. Und über alle habe ich auf den Meetings geteilt. Ich bin im Hochsommer dort auf die Meetings, wir saßen vorher in der Abendsonne auf dem Vorplatz und haben uns unterhalten. Ich war dort am Morgen des 1. Mai zum Spiritual Espresso Meeting um 7 Uhr, auf dem Weg in der Bahn habe ich etliche aktiv Süchtige gesehen, an diesem Tag war ich das erste Mal tief dankbar, wieder clean sein zu können. Ich war dort auf Meetings, wenn ich keine Lust dazu hatte, ich habe dort gelacht, geweint und so entstand schrittweise eine emotionale Verbindung zu dem Raum, der mich anfangs eher abgeschreckt hatte.
Der Raum wird außerdem für viele andere Zwecke genutzt: Einmal monatlich findet dort das Newcomer-Cafe statt, ein Sprecher:innen-Meeting, in welchem Newcomer:innen in lockerer Atmosphäre ihre Fragen zum Programm an erfahrene NA-Mitglieder stellen können. Eine tolle Idee, die sehr gut angenommen wird. Auch Komiteesitzungen finden dort statt, der Raum kann für Sponseetreffen und Cleangeburtstage angemietet werden. Einmal pro Monat trifft sich organisatorisch das Basiskomitee, an dem ich inzwischen regelmäßig teilnehme. Im Basisraum finden täglich Meetings statt, in mehreren Sprachen, es gibt dort ein Frauenmeeting, ein Frage/Antwort-Meeting und ich bin gespannt, welche Meetings in der Zukunft noch hinzukommen.
Inzwischen darf ich fast ein Jahr wieder clean sein. Bald teile ich den zweiten Schritt mit meinem Sponsor, ich fühle mich wieder als Teil dieser Gemeinschaft und bin sehr dankbar, dass ich zurückkommen konnte. Es ist unglaublich: Ich habe mich einfach wieder an die Tische gesetzt, gesagt “Mein Name ist…ich bin süchtig” und ich durfte einfach wieder mitmachen. Dies alles empfinde ich als großes Geschenk, jegliche Scham ist inzwischen verflogen. Neben meiner Wohnung ist der Basisraum mein zweites Zuhause geworden.
Beim gestrigen Meeting hatten wir einige krankheitsbedingte Ausfälle, ich bin dort der Kaffeediener. Aufgrund der Knappheit hat mir unser Serviceteam spontan das Vertrauen ausgesprochen, das Meeting vertretend zu chairen – was für ein Geschenk, was für eine Aufregung. Zum Glück gibt es ein Burning Desire und langjährige Freunde und Wegbegleiter waren vor Ort, wir hatten ein schönes Meeting. Anschließend bin ich mit dem Rad durch den Regen rüber in meine Wohnung gefahren, direkt in die Badewanne, frischer Pyjama und ab ins neue Bett. In diesem Moment habe ich realisiert, was alles in diesem Jahr passiert ist, wie sehr ich wachsen durfte. Vor weniger als einem Jahr war ich noch drauf, ohne das Programm und die Gemeinschaft, ohne jede Hoffnung. Ich wusste noch nichts vom Basisraum, ich wusste noch nichts von dieser Wohnung. Ich hatte keine Badewanne, ich hatte kein Bett, ich habe in völliger Isolation gelebt. Wenn mir zu diesem Zeitpunkt jemand gesagt hätte, was ich heute fühlen und erleben durfte, ich hätte ihm niemals geglaubt. Life beyond my wildest dreams!
Das erste Jahr ist schwierig, keine Frage – doch in diesem Moment konnte ich dankbar und glücklich sein. Wenn Higher Power so will, darf ich Ende Januar meinen ersten Cleangeburtstag feiern. Dafür werde ich den Basisraum anmieten und mich mit einem gemütlichen Kaffeetrinken bei meinen Freunden und unserem Programm bedanken.
Laut Wikipedia versteht man unter Basis in der Architektur als “der profilierte unterste Bauteil einer Säule, eines Pfeilers oder eines Sockels” – ich mag diesen Vergleich sehr gern und ich bin gespannt, welches Gebäude sich noch auf meinem Fundament entpuppen wird. Eine stabile Basis habe ich für mich gefunden. Ich möchte nun zum Ende kommen, es ist 10:45 und ich möchte aufs 11 Uhr Meeting – das schaffe ich noch entspannt, der Weg von meiner Basis in unsere Basis ist kurz. Danke!