Feeling Hell in Helsinki
Feeling Hell in Helsinki
Ich sitze auf einer Unisex Toilette in Helsinki, während ich bete, weine ich. Stumm, mit vor Anspannung weißen Knöcheln, halte ich meinen Energydrink und schreie mich in Gedanken an, dass ich mich zusammenreißen soll.
Was für eine Lusche ich in meiner Genesung geworden bin.
…dass ich nicht den Arsch in der Hose habe wieder mit geradem Rücken da raus zu gehen.
Krone gerade rücken weiter machen!!
Gleichzeitig beobachte ich mein inneres Kind und spüre meine Scham und meine Hilflosigkeit über die Rolle, die ich unfreiwillig eingenommen habe.
Ganz klar verzweifelt darüber, dass ich merke, dass ich doch nicht diese harte Person bin, für die ich mich halte. Jedenfalls hatte diese Härte und Coolness, die ich aus einer längst vergangenen Zeit gewohnt war nicht besonders viel mit mir zu tun. Denn ohne Konsum fallen alle meine erlernten Strategien weg, die mein altes Ich geprägt haben. Keine Verdrängung, kein wegmachen und easypeasy lemoncheesy in Situationen die mich emotional eigentlich überfordern.
Ich fühle ungefiltert, wie schwach ich bin und wie verletzt.
Ich fühle mich allein auf der ECCNA, der NA Europa Convention. Umgeben von Möglichkeiten der Verbindung und so viel Erfahrung Kraft und Hoffnung, wie ich sie noch nie vorher gefühlt habe.
In jedem Meeting, fühle ich die geballte Genesung und bin berührt und erfüllt von so vielen tollen Botschaften aus ganz Europa.
Jetzt sitze ich mit dem RAVE-Bändchen am Arm, überfordert in meinem Versteck auf der Toilette.
Was ist passiert:
Seit 3 Monaten hatte ich nun einen Fulltimejob. Dazu noch zwei Kinder, die jetzt gerade anfingen mit Vollgas in die Pubertät zu clashen.
Ich war Beiratssprecherin in meiner Hausgemeinschaft und hatte einen Freund außerhalb des Programms (und noch jede Menge anderer, kleiner Baustellen).
Mein Leben war voll.
Bis vor 10 Monaten hatte ich eine Beziehung im Programm.
Nach unserer Trennung lieferten wir uns einen erbitterten Kampf um Service Meetings.
Um überhaupt mit dem Programm verbunden zu bleiben hatte ich mit Komitee-Service begonnen.
Abgesehen von der Trennung hatte ich diverse andere, familiäre Krisen zu bewältigen.
In dieser Zeit erreichte ich einen neuen Tiefpunkt, ich kapitulierte und spürte, wie ich Themen und Teile meines bisherigen Selbst zurücklassen musste.
Ich wollte Service und Genesung genauso dringend wie ich Hunger auf Drogen hatte.
Ich wollte tiefer eintauchen ins Programm, Dinge bewegen und ich wollte ein Teil des großen NA-Zirkus sein. Ich wollte Komitee-Service und ich wollte mir nichts dazu sagen lassen.
Es war, als liefe ich gegen eine Mauer: Aus Schweigen, aus Widerständen und aus Unverständnis.
Was in Arbeitsmeetings nicht möglich ist, ist über Gefühle zu sprechen.
Komitees sind für die Erhaltung und Weiterentwicklung von NA gedacht.
Lernprozess Nummer eins von vielen, die noch kommen sollten.
Für meine persönliche Weiterentwicklung fehlte mir Mut, Zeit und meine Sponsorin.
Die ebenso wie ich, durch ihre ganz eigene Lebenskrise schleuderte und mir nicht mehr in dem Maße zur Seite stand, wie ich es gebraucht hätte.
Ebenso wie gerade auf der Toilette, hatte ich angefangen mich auch hier zu verstecken.
Ich traf mich mit Programmfreundinnen zu Hause, organisierte eigene Meetings und Miniveranstaltungen. Damit versuchte ich, meine eigene Genesung zu gestalten, entfernte mich dabei aber vom Wesentlichen. Ich schaffte es nur alle 2 Wochen in reguläre Meetings zu gehen.
Was mir fehlte war der Anschluss an Leute, die das Programm besser kannten als ich.
Die mir meine Fehler zugewandt spiegelten. Leute die lange dabei sind und Ihre Erkenntnisprozesse und Gefühle mit Leuten wie mir teilten.
Was mich bewegte, kannte weniger als eine Handvoll Frauen.
Ich habe gelernt: Im Programm sind Kontakte wie Kapital. Genesungskapital. Denn kaum etwas ist heilsamer als die Kraft einer verbundenen Gemeinschaft.
Mein Exfreund blieb mit dem Programm verbunden und teilte sich in den Meetings stetig mit.
Die Longtimer, mit denen er sich umgab, fühlten mit ihm und waren ihm verbunden.
Mit mir konnte keiner mitfühlen, weil ich nicht mehr teilte.
Als ich beschloss auf die Convention zu fahren, beschloss ich auch meine Genesung wieder in die Hand zu nehmen.
Auch mit dem Risiko, dass ich mit niemandem mehr verbunden und möglicherweise allein war.
Bevor ich mich auf der Toilette versteckte, begegnete ich meinem Exfreund. Einige Male hatte ich ihn von weitem gesehen, jedes Mal umringt von seinen Buddies.
Ich war ein einsames Irrlicht, wie in einigen Episoden meiner aktiven Sucht.
Und das Gefühl unverstanden und isoliert zu sein erfasste mich wie eine langsame Flut.
Und plötzlich, am RAVE Abend stand er vor mir und sprach mich an.
Mein Körper zitterte und ich versuchte mich zu beherrschen. Ich war zu überrumpelt, um überhaupt irgendein Gefühl zu fühlen.
Ich hielt das Gespräch oberflächlich, das in meiner Wahrnehmung vollkommen destruktiv verlief und wollte es schnellstmöglich beenden.
Mit ein bisschen Abstand standen ein paar seiner Buddies. Ich begriff die Situation, dass sie mich auslachten, während ich vor Scham über meine Hilflosigkeit und meiner Rolle der Service-an-sich-reißenden-Furie im Boden versinken wollte.
Ich musste vor meinen Gefühlen kapitulieren. Auch wenn vermutlich nur ein Bruchteil meiner Wahrnehmungswelt in diesem Augenblick zutraf.
Ich hätte gerne die Tanzfläche danach gestürmt, vielleicht auch einfach mit jemandem Fremden geknutscht, nichts fühlen…
Und plötzlich wurde mir klar, die einfachste Strategie, die ich in dieser Situation kannte, war Rausch. Diesen hätte ich gerne gehabt.
SEHR GERNE.
Nur ein bisschen den Kopf aus dem Arsch kriegen.
Weil es so einfach war und ich die Rolle in meinem Leben einnahm, in der ich mich, immer noch, in solchen, überfordernden Situationen zu Hause fühlte.
Ich saß also weinend auf dem Klo.
Nicht einmal betrunken oder druff war mir jemals eine Situation so entglitten.
Und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich die Kraft wieder erlangen würde einen guten Weg zu finden, aus dieser Situation gut wieder rauszukommen.
Testbild im Kopf.
Dann machte ich, auf dem Klo, ein Foto von meinen Füßen und schickte es einer Freundin.
Zum Glück erkannte sie die Situation sofort und meldete sich zurück.
Wir schrieben und schrieben, während ich weinte und weinte.
Sie schimpfte über den Mann und umarmte mich durchs Telefon und überlegte Lösungen. Wie war es überhaupt so weit gekommen?
So lange, bis ich endlich bereit war, die Tür meines Verstecks wieder zu öffnen.
Ich habe in dieser Nacht nichts genommen, ich habe die Kraft gefunden und habe noch getanzt.
Das könnte das Ende der Geschichte sein.
Das Beste sollte aber am nächsten Tag passieren.
Am nächsten Tag saß ich wieder, umringt von vielen leeren Stühlen, in einem Meeting.
Eine Gruppe Männer, Programmfreunde aus meiner Heimatstadt, kamen etwas verspätet und setzten sich neben mich.
Wir hörten einem bewegenden Sprecher zu und ich weinte wieder und konnte nicht aufhören.
Danach nahm mich einer von ihnen in den Arm und alle meine Dämme brachen gänzlich.
Ich begann vorsichtig von meiner Situation zu sprechen.
Und zu meiner Überraschung hörte er mir zu und wir begannen ein Gespräch darüber.
Kurz nach unserem Gespräch stand mein Exfreund vor mir und fragte, ob wir uns noch einmal unterhalten könnten.
Der Fellow, dem ich das T-Shirt nassgeweint hatte, hatte meinem Ex von unserer Unterhaltung erzählt.
Wir gingen spazieren, setzten uns ans Meer und endlich, nach so vielen Monaten der Sendepause, fingen wir an uns auszusprechen und zugewandt miteinander umzugehen.
Ich bin jetzt wieder auf der Suche nach einem neuen Stamm-Meeting, in der ich Service machen kann.